Techno-Vegetarismus: Steaks aus der Retorte

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Müssen wir wirklich noch Tiere halten, um Fleisch zu produzieren, oder stehen wir bereits an der Schwelle zur Ära des tierfreien Fleisches? Was heute noch als Phantasterei abgetan wird, kann schon in wenigen Jahren kulinarische Wirklichkeit sein, zum Beispiel »Beafsteak à la Techno«.

Von Gregg Easterbrook

Ein Schnellrestaurant im Jahre 2025. Sie bestellen einen doppelten Cheeseburger mit Pommes frites und einen Eiskaffee mit einem fast unaussprechlichen Namen. Kurz darauf kommt das Essen. Das Fleisch ist extrem mager und kalorienarm. Es ist Rindfleisch, doch es stammt weder von einer Kuh noch von einem Bullen. Die Kartoffeln, aus denen die Pommes frites zubereitet wurden, enthalten Beta-Carotin und andere Vitaminvorstufen. Das Soja-Öl in der Friteuse ist reich an mehrfach ungesättigten Fetten und an Verbindungen, die das Krebsrisiko vermindern. Und aus dem Kaffee, den Sie jetzt schlürfen, wurden die Säuren weitgehend entfernt und durch Phenolderivate ersetzt, die auch im Rotwein vorkommen und gut für das Herz sein sollen.

Die Szene im Fastfood-Restaurant hat Symbolcharakter. Schon in den nächsten Jahrzehnten, so schätzen Experten, werden sich die Ess- und Ernährungsgewohnheiten in den westlichen Industrienationen radikal ändern. Der Nährwert vieler Lebensmittel wird steigen; Rindfleisch, Fisch, Schweinefleisch und Geflügel wird in größeren Mengen angeboten werden, ohne dass dafür Tiere gezüchtet und geschlachtet werden müssen und Pommes frites werden genauso nahrhaft sein wie Brokkoli, Spinat oder Blumenkohl.

In den Entwicklungsländern, in denen momentan mehr als 800 Millionen Menschen an Unterernährung, Vitamin-, Eisen- und Proteinmangel leiden, wird sich eine ähnliche Revolution vollziehen. Grundnahrungsmittel wie Reis, Weizen und Maniok werden Eisen und Vitamine enthalten, die ihnen heute fehlen – eine Schüssel Reis wird (fast) zur ausgewogenen Mahlzeit. Die Getreideerzeugung wird ohne Ausweitung der Anbauflächen deutlich zunehmen; die Produktionsmengen von Fleisch und Geflügel werden steigen, obwohl die Tierhaltung deutlich zurückgeht. Das Fleisch der Zukunft wird unmittelbar in der »richtigen« zellulären Form »gezüchtet«, anstatt es in Tieren »wachsen« zu lassen. Und schließlich können sogar Impfstoffe in das genetische Material von Bananen, Tomaten und anderen Agrarerzeugnissen eingebracht werden – an der Cornell University wird bereits an solchen Verfahren gearbeitet. Damit käme man der von der Weltgesundheitsorganisation angestrebten weltweiten Immunisierung näher, ohne großen medizinischen Aufwand und ohne große finanzielle Kosten. Schöne neue Ernährungswelt. Natürlich erfordern derartige Szenarien den Einsatz der Gentechnologie. Damit Erträge steigen und Eigenschaften sich in der gewünschten Weise verändern lassen, muss die Erbsubstanz, die DNA, der Nutzpflanzen verändert werden. Doch die Abwehrfront gegen solche Initiativen ist nach wie vor groß.

George Gaskell, Wissenschaftler an der London School of Economics, hat in neueren Studien festgestellt, dass in Dänemark und Frankreich rund zwei Drittel der Bevölkerung genetisch verändertes Saatgut ablehnen; in Deutschland und Großbritannien sind die Hälfte der Verbraucher dagegen. Eines darf bei der Interpretation solcher Studien freilich nicht übersehen werden. Die genetische Veränderung von Saatgut – so wie wir es heute kennen – bietet den Verbrauchern noch keinerlei Vorteil. Die so genannten »transgenen« Agrarprodukte nützen vielmehr allein der Landwirtschaft für die Produktion von höher wertigem Saatgut und dienen dem Umweltschutz, weil wesentlich weniger Pestizide notwendig werden. Die Verbraucher gehen bislang leer aus.

Doch schon mit der nächsten Entwicklungsphase könnte sich das entscheidend ändern. Die Nahrungsmittel werden nahrhafter und gleichzeitig fettärmer sein – nicht einfach durch eine trickreiche, werbewirksame Reduktion des Fettanteils, sondern durch Variation der Fette, die dann einen geringeren Anteil an gesättigten Molekülen aufweisen. Derartige Produkte werden sehr schnell eine Nachfragewelle am Markt auslösen. Das gleiche gilt für Nahrungsmittel, die das Risiko herabsetzen, Krebserkrankungen oder Herz-Kreislaufkrankheiten zu bekommen. Und selbst die Vorstellung Fleisch zu essen, das nicht von Rindern, Schweinen oder Geflügel stammt, mag künftigen Generationen womöglich als ganz normal erscheinen. Unsere Nachfahren könnten sich eines Tages sogar darüber wundern, dass wir das Einsperren und Schlachten von Tieren zum Zweck der Lebensmittelproduktion so widerspruchslos toleriert haben. Einmal genetisch verändert, können Nahrungsmittel den Verbrauchern eindeutig nützen: In den Entwicklungsländern werden weniger Menschen verhungern, Krankheiten werden verhindert – vom Eisenmangel-Syndrom in den Entwicklungsländern bis hin zu Infektionen. Dann wird sich die gentechnische Variation von Nahrungsmittelpflanzen sicher durchsetzen – vorausgesetzt man einigt sich über die Vorschriften und die nötige Überwachung.

Die Vorstellung, Nutzpflanzen genetisch zu verändern oder sogar eine rein auf gentechnischen Verfahren beruhende Alternative zum Fleisch zu schaffen, mag vielen »unnatürlich« vorkommen. Man sollte aber auch Folgendes sehen: Praktisch alle Pflanzen und Tiere, die wir essen, sind künstlich beeinflusste Varianten der natürlich vorkommenden Arten. Die »Zwergweizen« – Stämme zum Beispiel, die seit fast einem Jahrhundert gezielt gezüchtet werden und die Erträge weltweit enorm steigerten, haben einen kürzeren und stabileren Halm und vollere Ähren als ihre natürlichen Vorfahren, die in der Antike im Nahen Osten angebaut wurden. Ähnlich hat der Reis, von dem sich die meisten Völker Asiens ernähren, so üppige Erträge, dass er kaum noch Ähnlichkeit mit den natürlichen Gräsern hat, die seine Ahnen sind. Und der Mais, der heute in den Vereinigten Staaten angebaut wird, hat auch nicht mehr viel mit dem Teosint gemein, jenem kleinen Wildgewächs, das die nordamerikanischen Ureinwohner schon vor Jahrtausenden durch gezielte Kreuzungen zu verbessern begannen. Ein anderes Beispiel: Vor hundert Jahren hatte die Sojabohne praktisch keine landwirtschaftliche Bedeutung, weil sie fast ungenießbar war.

Durch gezielte Kreuzungen wurde sie so weit entwickelt, dass sie für die Nahrungsmittelversorgung inzwischen unentbehrlich ist. Die »künstlich« beeinflusste Evolution machte es möglich. Und bei Nutzvieh wurde häufig so intensiv gekreuzt, dass regelrechte »künstliche Rassen« – etwa die Angus-Charolais-Galloway-Rinder – entstanden.

Auf welche Weise die Gentechnologie bei Pflanzen und Tieren eingesetzt werden kann – und wie sie zu überwachen ist – soll hier nicht besprochen werden. Die unmittelbaren Bedenken betreffen vor allem die Frage, ob die DNA im Labor verändert wird, oder ob dies durch gezielte Kreuzungen geschehen soll. »Es ist prinzipiell riskant, Gene von einer biologischen Spezies auf eine andere auf eine Weise zu übertragen, die bei der natürlichen Selektion nicht vorkommen kann«, meint Margaret Mellon, führendes Mitglied der »Union for Concerned Scientists« in den USA. Andere Experten vertreten die Ansicht, dass es allein auf die DNA ankomme, nicht jedoch darauf, wie diese übertragen wird. Per Pinstrup-Andersen, Leiter der »Consultative Group for International Agriculture Research«, die Landwirte in den Entwicklungsländern berät, hält dem entgegen: »Man kann in das Saatgut nichts Organischeres einbringen als ein natürlich vorkommendes Gen, das sich in der freien Natur herausgebildet hat.« Genau das wird bei der gentechnischen Behandlung von Saatgut angestrebt – um die Nahrungsmittel durch Übertragung bereits existierender Gene zu verbessern. Die weltweit anerkannte Zeitschrift »Nature« meldete vor kurzem, es gebe »keinen wirklichen Beweis« dafür, dass sich genetisch modifizierte Nahrungsmittel von jenen Produkten unterscheiden, die aus traditionell gezüchteten oder gekreuzten Pflanzen hervorgehen.

An der Frage, Rindfleisch auf nicht-tierischer Basis zu erzeugen, arbeiten viele Forscher im Stillen. Angesichts des hohen Tempos der Forschungsarbeiten ist jedoch nicht auszuschließen, dass noch zu Lebzeiten unserer Kinder das Schlachten von Tieren zur Gewinnung von Fleisch und anderen Produkten in den westlichen Ländern (vielleicht sogar in der ganzen Welt) aufgegeben wird. Wir stünden damit vor der einschneidensten Veränderung in der Nahrungskette seit Menschengedenken. Steaks, Schnitzel und Geflügelfleisch sind zunächst nichts anderes als Ansammlungen tierischer Zellen. Die Körper von Rindern, Schweinen und Vögeln beherbergen die von uns gewünschten Fleischzellen; wir schlachten die Tiere und entnehmen das Fleisch – so machen wir das seit Urzeiten.

Aber müssen sich Fleischzellen unbedingt in einem tierischen Organismus befinden, um wachsen zu können? Nehmen wir statt dessen einmal an, Fleischzellen könnten direkt »angebaut« oder »gezüchtet« werden. Das bedeutet, sie würden dazu gebracht, unter kontrollierten Bedingungen auf einer Art von »Nährboden« zu wachsen.

Ein derartiger direkter »Anbau« von Fleisch hat im Labor schon funktioniert. Die Frage ist nun: Wie könnte der Teil einer Nahrungskette mit »angebautem« Fleisch funktionieren? Stellen wir sie uns einmal folgendermaßen vor: Die Bauern würden als Substrat Pflanzen anbauen, am besten Getreide und Mais. Diese Pflanzen stellen die wesentlichen Kohlenhydrate bereit. Auch die Pflanzen wären bereits gentechnisch bearbeitet, damit sie Proteine und Mikronährstoffe, also Spurenelemente und Mineralien enthalten, die sich später im Fleisch befinden müssen. Die Pflanzen würden geerntet und zu den »Produktionsstätten« für das Fleisch gebracht. Hier nun würden die Nährstoffkonglomerate in ihre verwertbaren Komponenten zerlegt. In diese Nährlösung würde eine Zellkultur für die jeweils gewünschte Fleischart hinzugefügt, und man ließe sie wachsen. Das Endprodukt wäre Rind-, Schweine- oder Geflügelfleisch, das biologischen Ursprungs wäre und sich von dem uns bekannten Fleisch nicht unterscheiden würde. Und weil die Zellkulturen aus Proben stammten, die aus einer Art Biopsie hervorgingen, würden für den eigentlichen Produktionsprozess selbst keine Tiere benötigt.

In Geschäften und Supermärkten angeboten, würde dieses Fleisch mit Sicherheit als »nicht echt« abgelehnt werden. Gehen wir deshalb einmal zurück in die gute alte Zeit: Vor hundert Jahren erhielten die Kunden noch ganze Hühner oder Enten, und das Schnitzel wurde vom Metzger erst beim Verkauf von der Keule geschnitten. Damals hätte man das, was wir heute zumeist kaufen, auch als »unnatürlich« abgelehnt: Schnitzel und Hähnchenkeulen, portioniert und in Folie eingeschweißt, auf der das Haltbarkeitsdatum und ein Barcode aufgedruckt sind. Andererseits kommt uns die Art und Weise, wie man früher an das Fleisch für die Mahlzeiten kam, rückständig und barbarisch vor: Man ging in den Hühnerstall, griff sich ein Huhn, drehte ihm den Hals um – und ab in die Pfanne. Unsere Kindeskinder werden das Schlachten von Tieren für ähnlich primitiv halten – und dennoch ihr Steak genießen können. Mit dem synthetischen Anbau von Rinder-, Schweine- oder Geflügelfleisch wird auch der Bedarf an Weidefläche drastisch zurückgehen; Millionen Hektar Land könnten wieder der Natur überlassen werden oder in einen Zustand gelangen, wie er vor der durchgehenden Technisierung auf dem Land herrschte. Man hat berechnet, dass die Pflanzen zum Erzeugen von synthetischem Fleisch weniger als ein Viertel der Landfläche benötigten, die man heute als Weidefläche für das Vieh braucht, um dieselbe Fleischmenge hervorzubringen. Der Ersatz von tierischem Fleisch durch angebautes Fleisch böte noch andere ökologische Vorteile. An vielen Orten gefährden tierische Fäkalien und Gülle bereits Grundwasser und küstennahe Gewässer – Folge der rasanten Zunahme der Viehherden. Methan aus Gülle und Mist tragen zudem nicht unerheblich zum Treibhauseffekt bei. Diese Treibhausgase würden in kleineren Mengen anfallen, wenn die Viehherden nicht mehr so groß wären. Ein weiterer Vorteil: In Fleischprodukten werden zuweilen Bakterien entdeckt, die gegen Antibiotika resistent sind. Der Grund: Den Tieren werden immer höhere Dosen an Antibiotika verabreicht. Das Resultat: Die Bakterien bringen resistente Mutationen hervor. Bei synthetisch angebautem Fleisch könnte so etwas nicht passieren.

Der Ausblick: Tierfreies Fleisch und gesündere Nahrungsmittel können auch eine Vision bleiben. Schon manche Verheißung hat sich letztlich in nichts aufgelöst. Doch die Zeichen stehen günstig für eine künftige Nahrungskette, die nützlicher und bekömmlicher ist, die die Natur weniger belastet und die moralischen Bedenken mildert, die wir beim teilweise unwürdigen Massentransport und beim Schlachten der Tiere haben. Irgendwann werden Kinder vielleicht schockiert sein, wenn sie hören, dass ihre Vorfahren riesige Schlachthöfe betrieben. Sie werden sich angewidert abwenden und einen doppelten Cheeseburger bestellen. Aber bitte mit Pommes frites.

Quelle

Der bekannte amerikanische Journalist Gregg Easterbrook schrieb diesen Artikel für »FUTURE – Das Aventis Magazin 3/2000« des deutsch-französischen Pharma- und Biotechnologiekonzerns Aventis. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

Der aus der Fusion der deutschen Hoechst AG und der französischen Rhône-Poulenc S.A. hervorgegangene Konzern hat Ende 2000 angekündigt, sich zukünftige auf das Pharmageschäft zu konzentrieren und die Landwirtschaftsaktivitäten abzuspalten.

Einladung zur Diskussion

Dieser Artikel stellt einige aus veganer Perspektive sehr interessante Aspekte der Biotechnologie vor. Wir möchten Sie herzlich dazu einladen, sich mit uns und anderem Lesern in unserem Diskussionsforum auszutauschen.

Links zum Thema

Steaks vom Weizenacker – »Der Spiegel« vom 12. März 2001

 

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